F. William Engdahl Kopp-Online 14.11.2013
Hinter der Fassade der Kooperation zwischen der Obama-Regierung in den USA und der Putin-Regierung in Russland über den Abbau des Chemiewaffenarsenals in Syrien und einer Einigung über das Atomprogramm mit dem Iran läuft eine eiskalte Eskalation von Spannungen, die in den westlichen Medien kaum zur Kenntnis genommen wird. Im Zentrum der Spannungen steht Washingtons hartnäckige Weigerung, in der Frage der »Raketenverteidigung« in Europa – die diesen Namen sicherlich zu Unrecht trägt – mit Russland zusammenzuarbeiten.
Mit Recht besteht Russland darauf, dass sich die Stationierung von amerikanischen Raketen und entsprechenden Anlagen in Polen, der Tschechischen Republik und jetzt auch in Rumänien und Bulgarien nicht gegen den Iran richtet. Vielmehr werde damit eine existenzielle Bedrohung für Russlands Zukunft geschaffen. Westliche Medien reagieren pflichtschuldig mit einer persönlichen
Verteufelung Putins, während die Vorbereitungen für einen atomaren Erstschlag gegen Russland weiterlaufen.
Ein Treffen zwischen Pentagon-Vertretern und dem rumänischen Präsidenten am 29. Oktober wurde in den westlichen Mainstreammedien weitgehend ignoriert. Der Leiter der Abteilung Politik im US-Verteidigungsministerium, James Miller, tat den ersten Spatenstich für eine amerikanische Raketenstellung, die zur US-Raketenabwehr, angeblich gegen einen möglichen Angriff durch den Iran oder Nordkorea (!) auf Europa, gehört. Standort der rumänischen Raketenabwehr ist ein ehemaliger Luftwaffenstützpunkt in der Nähe von Deveselu, 180 Kilometer östlich der rumänischen Hauptstadt Bukarest. Er wird 2015 fertiggestellt sein. Rumäniens Präsident Traian Băsescu war bei der Zeremonie anwesend.
Băsescu fällt offenbar auf die Pentagon-Propaganda über den defensiven Charakter der auf rumänischem Boden stationierten amerikanischen Raketen, die mit Atomsprengköpfen bestückt werden können, herein. In seiner Begeisterung nimmt er nicht zur Kenntnis, dass er Rumänien damit zum vorrangigen Ziel eines atomaren Angriffs Russlands im Falle eines Kriegs mit der NATO gemacht hat.
Bedeutsamerweise hat sich Washington immer wieder standhaft geweigert, sich auf rechtlich bindende Garantien darüber festzulegen, dass die neue Raketenabwehr in Europa nicht gegen Russlands strategisches Atomwaffenarsenal gerichtet ist. Rose Gottemoeller, im US-Verteidigungsministerium zuständig für Abrüstung, erklärte kürzlich vor polnischen Zuhörern: »Wir engagieren uns für einen Dialog über eine Raketenabwehr« – eine weitgehend bedeutungslose Geste, die es eindeutig so aussehen lassen soll, als verhalte sich Washington verantwortlich, ganz im Gegensatz zu den »paranoiden Russen«.
Die amerikanischen Pläne für eine Verteidigung in Europa sehen Anlagen in der Tschechischen Republik und Polen, in Rumänien und Bulgarien sowie Radarstationen in der Türkei vor. Vertreter der USA und der NATO bestehen darauf, das System diene strikt dem Schutz Europas vor möglichen Angriffen durch den Iran und Nordkorea.
Putin reagiert
Am 31. Oktober, zwei Tage nach der Zeremonie in Rumänien, antwortete Russlands Präsident Wladimir Putin auf die jüngste Bedrohung durch US-Raketen. Putin kündigte offiziell eine Order aus dem Jahr 2011 auf, durch die eine ressortübergreifende Arbeitsgruppe im russischen Präsidentenamt gebildet worden war, die eine Zusammenarbeit mit der NATO in der Frage der Raketenabwehr entwickeln sollte. Zudem widerrief er ein Dekret vom 25. April 2012: »Über die Aufhebung der Anordnung des russischen Präsidenten ›Über den Sonderbeauftragten des russischen Präsidenten für die Raketenabwehr-Kooperation mit der North Atlantic Treaty Organization (NATO)‹«.
Nicht minder alarmierend als der Bruch in der Zusammenarbeit mit der NATO ist die Tatsache, dass die Zeremonie in den westlichen Medien praktisch nicht zur Kenntnis genommen wurde. Es wurde nicht ernsthaft erwogen, weder in den Medien noch bei den Regierungen, die Öffentlichkeit im Westen über den destabilisierenden Charakter der Stationierung der Raketenabwehr durch das Pentagon zu informieren.
Wladimir Kozin, ein ehemaliger hochrangiger Raketenabwehrexperte des russischen Außenministeriums und jetzt Mitglied von Putins ressortübergreifender Arbeitsgruppe, die in Kooperation mit der NATO ein Regelwerk über Raketenabwehr zu entwickeln versucht, erklärte jüngst in einem Artikel in der russischen Zeitung Moscow Times: »Amerikanische operative Raketenabwehrsysteme, die 2015 bzw. 2018 in Rumänien und Polen stationiert werden sollen, sind nicht dazu gedacht, potenziell vom Iran abgeschossene Raketen abzufangen – wie die USA zur Begründung ihres geplanten Raketenschirms erklären. Das ist die Aufgabe der Raketenabwehrsysteme der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten in der Golfregion. Der einzige Zweck der amerikanischen Raketenabwehranlagen, die in Europa stationiert werden, besteht in der Zerstörung russischer Interkontinentalraketen.«
Kozin betonte: »Russlands Bedenken gründen sich auf eine Reihe objektiver Faktoren, wie beispielsweise das Vorrücken der NATO-Infrastruktur in Richtung auf die Grenzen Russlands. Ein neuerliches Beispiel ist der Plan Bulgariens, Polens und Rumäniens, ein US-Raketenabwehrsystem auf ihrem Territorium zuzulassen, das noch weit schlagkräftiger sein wird als das bereits zuvor für Polen und die Tschechische Republik geplante.« In Wirklichkeit verfolgt Washington eine Politik von Lügen und Täuschung, seit US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld Ende 2006 die Stationierung von Raketen und entsprechenden militärischen Anlagen in Polen und der Tschechischen Republik gegen »die Gefahr eines iranischen Raketenangriffs auf Westeuropa« ankündigte.
Im Februar 2007 hielt Putin als Gast der internationalen Münchner Sicherheitskonferenz, der früheren Wehrkunde-Konferenz, eine ungewöhnliche Rede, die viele im Westen überraschte. Er erklärte ganz offen, die angekündigte US-Raketenabwehr in Polen und der Tschechischen Republik sei keinesfalls defensiv, sondern vielmehr offensiv ausgerichtet und richte sich nicht gegen den Iran, sondern gegen Russland. Putin vor seinen schockierten Zuhörern in München:
Das bedeutet, dass die NATO ihre Stoßkräfte immer dichter an unsere Staatsgrenzen heranbringt… …es ist offensichtlich, dass der Prozess der NATO-Erweiterung keinerlei Bezug zur Modernisierung der Allianz selbst oder zur Gewährleistung der Sicherheit in Europa hat. Im Gegenteil, das ist ein provozierender Faktor, der das Niveau des gegenseitigen Vertrauens senkt. Nun haben wir das Recht zu fragen: Gegen wen richtet sich diese Erweiterung? Und was ist aus jenen Versicherungen geworden, die uns die westlichen Partner nach dem Zerfall des Warschauer Vertrages gegeben haben?
Als Reaktion auf Putins Offenlegung der US-Offensivstrategie sprachen westliche Medien zum ersten Mal seit dem Ende der Sowjetunion im Jahr 1991 von einem neuen Kalten Krieg zwischen dem Westen und Russland. Allerdings erwähnten sie nicht, dass ihn Washington und nicht Russland initiiert hatte. Das US-Außenministerium veröffentlichte eine formelle Protestnote, worin sich die Bush-Regierung »über die wiederholten bissigen Kommentare über das geplante System durch Moskau verwundert« zeigte.
Doch die Stationierung der Raketenabwehr in Europa und der Türkei ist alles andere als defensiv, genauso wenig wie die Haltung gegen China. Kein Geringerer als Lt. Colonel Dr. Robert Bowman, Direktor des Raketenverteidigungsprogramms der US Air Force in der Reagan-Ära, bezeichnete die Raketenabwehr als »fehlendes Bindeglied zu einem Erstschlag«. Wenn eine von zwei konkurrierenden Atommächten Raketenabwehrsysteme stationiert und die andere nicht, so ist erstere versucht, einen atomaren Erstschlag auszuführen, weil sie sich kalt ausrechnet, dass die Fähigkeit zur Vergeltung für den anderen, in diesem Fall Russland, durch die US-Raketen-»Abwehr« geschwächt ist.
Russlands aktive Maßnahmen
Russland steht nicht untätig und händeringend herum. Am 1. November gab die staatliche Nachrichtenagentur RIA Novosti bekannt, dass sich zwei russische Tupolew-Bomber vom Typ Tu-160 Blackjack auf einem Einsatz in Südamerika befinden. Sie führen dort im Rahmen eines Trainings für den Kampfeinsatz mehrere Kontrollmissionen über der Region durch, teilte das Verteidigungsministerium mit. Es sind atomwaffenfähige Bomber. Ursprünglich hatte Putin eingewilligt, sie nach einer kurzen Übung zurückzurufen. Am Tag nach dem ersten Spatenstich für die rumänische Raketenanlage rückte Putin von dem Plan ab, die russischen Tu-160-Bomber von ihrem Stützpunkt in Venezuela zurückzurufen. Am 3. November war die Türkei gezwungen, ihre amerikanischen F-16-Jagdflugzeuge starten zu lassen, um mehrere russische Flugzeuge an der Grenze zur Türkei, einer der Stellungen der US-Raketenabwehr, abzufangen. Es war eine nicht gerade subtile Warnung an Ankara.
Zudem hatte Präsident Putin am Rande der jährlichen russischen Militärmesse (9th International Exhibition of Arms, Military Equpiment and Ammunition) im September in Nischni Tagil angekündigt, Russland werde in den kommenden Jahren umgerechnet 775 Milliarden US-Dollar für die Modernisierung seiner Streitkräfte aufwenden. Zum Vergleich: Die Nummer zwei der Welt, China, wird offiziell 132 Milliarden, inoffiziell vermutlich weit mehr, ausgeben. Doch der große Elefant in der Welt der Verteidigung ist Washington mit offiziellen Ausgaben von über einer Billion Dollar in diesem Jahr, trotz Haushaltskürzungen. Der Trend weist in Russland nach 20 Jahren Haushaltsstagnation deutlich nach oben.
Auch wenn Wladimir Putin mit Sicherheit kein Heiliger ist, lässt sich nicht verleugnen, dass Russland stets für diplomatische statt militärische Lösungen eingetreten ist. Die Weigerung von inzwischen zwei US-Präsidenten – George W. Bush und Barack Obama – zu ernsthaften Verhandlungen mit Russland über den Abbau der Atomkriegsgefahr ist mehr als merkwürdig.
Sie lässt darauf schließen, das Washington und alle, die insgeheim die Fäden der Macht in der Hand halten, darunter auch die Militärs und der militärisch-industrielle Komplex der NATO-Mitgliedsländer, einseitig wieder die Vorstellung von Anfang der 1950er Jahre übernehmen, die damals von General Douglas MacArthur vertreten und von US-Marineminister Francis P. Matthews sowie dem vehementen Kommunismusgegner Papst Pius XII. und anderen unterstützt wurde – die atomare Auslöschung der damaligen Sowjetunion.