Fukushima: „Die Wahrscheinlichkeit, dass die Rettung gelingt, geht gegen Null“

Deutsche Wirtschafts Nachrichten  Veröffentlicht: 09.10.13, 03:37

Der deutsche Physiker Sebastian Pfugbeil ist äußerst pessimistisch, dass eine elementare Katastrophe in Fukushima abgewendet werden kann. Die Folgen würden die gesamte Nordhalbkugel der Erde zu spüren bekommen.Pflugbeil: „Die Menschheit könnte beim Scheitern der Versuche, die gebrauchten Brennelemente des KKW Fukushima zu bergen, in einer bisher nicht gekannten Weise durch Strahlen geschädigt werden.Das Kernkraftwerk von Fukushima: Viele Lügen, und wenig Aussicht auf Erfolg bei der Verhinderung einer Katastrophe. (Foto: TBS News)
Der deutsche Physiker Sebastian Pflugbeil hält die Situation in Fukushima für äußerst kritisch. Pflugbeil sagte den Deutschen Wirtschafts Nachrichten: „Die Menschheit könnte bei Scheitern der Versuche, die gebrauchten Brennelemente des KKW Fukushima zu bergen, in einer bisher nicht gekannten Weise durch Strahlen geschädigt werden.“ Pflugbeil glaubt zwar nicht, dass die Menschheit durch eine weitere Katastrophe in Fukushima ausgelöscht wird: „Die Menschheit ist sehr robust!“ Doch er ist sehr pessimistisch über die Möglichkeiten, dass die Lage noch unter Kontrolle gebracht werden kann.
Pflugbeil zur Lage in Fukushima:
„Die Lage ist zunehmend kritisch durch den Verfall der Ruinen. Die Brennstäbe sich nicht geborgen. Die Reaktorblöcke sacken ab. Tausende Tonnen verseuchtes Wasser werden in das Meer abgelassen. Der Untergrund, auf dem der Reaktor ruht, ist nicht mehr belastbar – er schwimmt. Es hat sich alles bereits so verschoben, dass über ein Meter Höhenunterschied von einer Ecke zur anderen besteht. Die dadurch hervorgerufenen Spannungen haben bereits zu beängstigenden Rissen in der Gebäudekonstruktion geführt.“
Pflugbeil zu den Gefahren:
„Wenn die Brennstäbe nicht mehr gekühlt werden, dann kommt es zu einer Katastrophe. Dann werden gigantische Mengen an Radioaktivität freigesetzt. Da reicht ein Riss in dem Becken und das Kühlwasser läuft aus. Die Brennstäbe würden sich entzünden. Die Brennstabhüllen bestehen aus Zirkonium. Wenn das brennt, bekommt man es nicht mehr unter Kontrolle. Die Hüllen brechen dann auf. Dann strömt Radioaktivität in großem Umfang aus – gasförmig, leichtflüchtig, mittelflüchtig. Auch die Brennelemente in den anderen Blöcken des Kernkraftwerkes werden dann in absehbarer Zeit zerstört, weil die Mitarbeiter das Gebiet wegen der extremen Strahlenbelastung sofort verlassen müssen. Es genügt ein kleiner Erdbebenstoß oder ein Sturm oder einfach das Versagen der Gebäudestrukturen, um diese Katastrophe in Gang zu setzen.“
Zum Rettungsplan der Japaner:
„Die Japaner wollen zunächst die 1.300 Brennelemente im Block 4 einzeln herausholen. Wenn auch nur ein einziger zerbricht, müssen die Arbeiter weg. Das ist ein extrem komplizierter und langwieriger Prozess. Wie schwierig das ist, hat man bei einem Test gesehen, den die Japaner mit einem noch unbenutzten Brennstab gemacht haben. Dens haben die mit der Hand beim Herausziehen gelenkt. Mit der Hand! Die aktiven Brennstäbe kann man nicht mit der Hand anfassen, das wäre tödlich. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Rettung gelingt, geht gegen Null.“

Sebastian Pflugbeil: „Das wird den gesamten Pazifik und die von ihm lebende Bevölkerung treffen.“ (Foto: Flickr/ippnw Deutschland)
Pflugbeil zu den Folgen:
„Die Gefahr, die von den alten Brennelementen ausgeht, ist gigantisch. Darüber sind sich alle Experten einig. Wenn es zu diesem schlimmsten Fall kommt, müssen riesige Gebiete evakuiert werden. Wenn der Wind in die Richtung von Tokio zieht, müsste Tokio vollständig evakuiert werden. Aber das geht nicht. Die Folgen würden nicht nur Japan, sondern die ganze Nordhalbkugel der Erde betreffen. Denn die Luftströmungen verlaufen auf der Nordhalbkugel und der Südhalbkugel einigermaßen getrennt voneinander. Tschernobyl war immerhin mehr als 1.000 km weg. Die zuständigen Fachleute und Politiker haben damals versichert, dass wir in Deutschland keine Gesundheitsschäden zu befürchten hätten. Es kam anders: Mehr behinderte Kinder wurden geboren, die Säuglingssterblichkeit stieg, Downsyndrom und Leukämie bei Kindern nahmen zu. Andere Folgen waren noch dramatischer: In Westeuropa, der Tschernobyl-Region und den südlichen Staaten der Sowjetunion wurden etwa eine Million Mädchen wegen der Katastrophe von Tschernobyl nicht geboren. Die Zahl der Opfer allein in Westeuropa geht nachweislich in die Hunderttausende. Es spricht viel dafür, dass wir das alles nach der Katastrophe in Fukushima noch einmal erleben. Hinzu kommt die Kontamination des Pazifiks, in dem komplizierte und langdauerne Nahrungsmittelketten ablaufen, die eine wichtig Rolle für die menschliche Ernährung spielen. Das wird den gesamten Pazifik und die von ihm lebende Bevölkerung treffen.“
Pflugbeil zur Lethargie vieler Japaner:
„Die Japaner sind jahrhundertelang zu einem extrem angepassten Verhalten erzogen worden. Sie sind immer wieder darauf gedrillt worden, dass sie sich so wie die anderen zu verhalten haben, dass Kritik an Vorgesetzten, an der Politik unanständig ist. Der soziale Druck auf die einzelnen ist enorm. Sie dürfen nicht zugeben, dass sie Angst haben. Unter der Bettdecke haben sie natürlich panische Angst. Aber sie dürfen das nicht zeigen. Mir ist mehrfach berichtet worden, dass jemand, der wegen irgendeiner Erkrankung zum Arzt gehen muss, in seiner Umgebung davon nichts erzählt. Er fürchtete, dass man denken könnte, er ginge wegen Fukushima zum Arzt. Das ist aber nicht erwünscht.“
Zur Realitätsverweigerung:
„In Fukushima bekommen die Kinder in den Kantinen der Schulen immer noch die Lebensmittel aus der Region. Wenn jetzt ein Kind sein Lunchpaket von zu Hause mitnimmt, weil sich seine Eltern Sorgen machen, dann wird das Kind nach vorn zitiert. Es wird gerügt, weil es sich nicht patriotisch verhält. Das erinnert mich sehr an die Zeit in der DDR nach Tschernobyl: Die Kinder, deren Eltern Bescheid wussten, haben in der Schule ihre Milch nicht getrunken. Darauf bekamen diese Eltern Ärger an ihren Arbeitsstellen. Die Eltern wurden gefragt, welchen Unsinn sie denn ihren Kindern erzählen.“
Zur bisherigen „Rettung“:
„Es ist unglaublich, dass die japanische Regierung mehr als zwei Jahre ins Land hat streichen lassen, ohne die internationale Gemeinschaft um Hilfe zu bitten. Es ist ja nicht der Fall, dass man systematisch Schritt für Schritt die defekte Anlage in Ordnung bringt.. Es sind viele Firmen vor Ort, jeder will irgendetwas machen – aber es gibt keinen Generalplan, wie das Problem gelöst werden soll. Bis vor kurzem haben die Japaner nicht einmal Messgeräte gehabt, mit denen sie die Strahlung der hochbelasteten Flüssigkeiten messen konnten, die in den großen Tanks auf dem Gelände des Kernkraftwerks notdürftig aufbewahrt werden. Dadurch wurden alle Arbeiter, die damit zu tun hatten, einer viel zu hohen Strahlenbelastung ausgesetzt.“
Über die internationalen Atom-Behörden:
„Die Gremien von UN, IAEA und WHO, die eigentlich dafür da sein sollten, die Menschen zu schützen, stehen nahezu ausschließlich im Dienst der Atom-Industrie. Die Leute in den Behörden kommen aus dem Uran-Bergbau, von Kernenergie-Betreibern, aus der Atomwaffenindustrie oder der Nuklearmedizin. Es gibt nur ganz wenige unabhängige Leute in diesen Gremien. Die UN wird demnächst einen Bericht herausbringen, verantwortlich ist das Wissenschaftliche Komitee der Vereinten Nationen für die Wirkung Atomarer Strahlen UNSCEAR: Der Bericht ist ein glattes Lügengebäude. Er wird die Lage in Fukushima total verharmlosen. Er wird so tun, als sei alles unter Kontrolle und es würde keinerlei Strahlenschäden in der Bevölkerung geben. Wir kennen die entsprechenden Einschätzungen zu den Folgen von Tschernobyl. In Japan ist es leider auch Brauch, dass Politiker, wenn sie aus dem Amt scheiden, einen gut dotierten Posten in der Atom-Industrie bekommen, bei dem sie nicht zu arbeiten brauchen. Diese Posten wollen sie nicht gefährden. Daher wagen sie es nicht, die Wahrheit zu sagen.
Über die Angst der internationalen Experten, in Fukushima zu helfen:
„Es gibt nur eine Handvoll Experten, die bei diesem Problem wirklich Expertise haben. Diese Leute verhalten sich jetzt ganz ruhig und ducken sich weg. Sie beten, dass die Welt mit einem blauen Auge davon kommt. Keiner reißt sich darum, nach Fukushima zu fahren und zu helfen. Denn alle wissen: Diese Arbeit ist lebensgefährlich und der Erfolg ist mehr als fraglich.
Sebastian Pflugbeil wird am Donnerstag nach Japan reisen. Nach einem Kongress wird er auch in die Präfektur Fukushima fahren. Er will sich selbst ein Bild von der Lage machen. Er wird versuchen, trotz der aktiven Behinderung durch die Betreiber und die Regierung an Informationen zu kommen, wie die Lage wirklich ist.
Dr. rer. nat. Sebastian Pflugbeil ist Präsident der deutschen Gesellschaft für Strahlenschutz e.V. Pflugbeil arbeitete bis zur Wende als Medizinphysiker im Zentralinstitut für Herz-Kreislauf-Forschung der Akademie der Wissenschaften der DDR in Berlin-Buch und befasste sich ehrenamtlich mit Problemen der Atomenergieverwertung, insbesondere den Strahlenfolgen in den Uranbergwerken der Wismut. Er war Mitbegründer der DDR-Bürgerbewegung Neues Forum und vertrat dieses als Sprecher am Berliner und am Zentralen Runden Tisch. 1990 wurde er Minister ohne Geschäftsbereich in der Übergangsregierung unter Modrow. In dieser Funktion setzte er sich für die sofortige Stilllegung der Atomreaktoren in der DDR ein. Danach war er bis 1995 Abgeordneter im Berliner Stadtparlament. 2012 erhielt er den Nuclear-Free Future Award für sein Lebenswerk.
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